Iuventa-Crew frei von allen Anklagen!

October 3, 2024

Alle Papiere unterschrieben, Berufungsfrist abgelaufen! Nach einer siebenjährigen Odyssee halten wir nun mit einem Wechselbad der Gefühle die Abschlussdokumente unseres Gerichtsverfahrens in den Händen. Die Zustellung der Übersetzung der Urteilsbegründung markiert den Schlussakt des längsten, teuersten und umfangreichsten Strafverfahrens, das je gegen Seenotrettungsorganisationen eingeleitet wurde – und es endete mit mehr als nur einem Freispruch!

Der Sachverhalt stellt keine Straftat dar.

19. April 2024, so das Fazit des Richters

Mit „Sachverhalt“ meinte der Richter die Rettungseinsätze der IUVENTA-Crew und ihrer Kollegen von anderen SAR-Organisationen (Search and Rescue) in den Jahren 2016 und 2017. In diesem Zeitraum half die IUVENTA-Crew mehr als 20.000 Menschen, aus Libyen zu fliehen, indem sie sie aus seeuntüchtigen Booten rettete und dafür sorgte, dass sie in einen sicheren Hafen gebracht wurden. Der Richter stellte fest, dass alle Beteiligten das taten was sie tun sollten: Das italienische Seenotrettungsleitstelle (IMRCC) koordinierte die Rettungsaktion, das Rettungsschiff IUVENTA rettete die Menschen und die Schiffe von Save the Children und Ärzte ohne Grenzen brachten die Überlebenden in einen sicheren Hafen. Basta!

Der Versuch der Staatsanwaltschaft, die Rettungsaktionen der IUVENTA-Besatzung als „mit Schleppern vereinbarte Übergaben zum Zwecke der Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ von Menschen nach Italien zu deklarieren, scheiterte ebenso wie der Versuch, eine organisationsübergreifende „Verschwörung zur Begehung von Straftaten“ nachzuweisen. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass der Strafprozess auf schlampigen Ermittlungen, fehlerhaften, wenn nicht gar manipulierten Ermittlungsakten und völlig unglaubwürdigen Zeugenaussagen aufgebaut war.

Die Verhandlungen fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, mit der Begründung, die „Persönlichkeitsrechte der Angeklagten“ müssten geschützt werden und es gelte die „Unschuldsvermutung zu respektieren“. Für viele waren wir jedoch bereits schuldig, bevor das Hauptverfahren überhaupt begonnen hatte.

Seit der Beschlagnahmung der IUVENTA im August 2017 stand unser Prozess immer wieder im Zentrum der politischen und medialen Debatte über die Seenotrettung. Er wurde als „großer Schlag gegen die Seetaxis“ und als „Beweis“ für alle möglichen Verschwörungstheorien dargestellt. Diese politische Manipulation der Narrative rund um Flucht und Fluchthilfe hat sich als erfolgreich erwiesen.

Im Windschatten dieses politischen Theaters wurde der Fokus des öffentlichen Diskurses subtil umgelenkt und verändert, die Aufmerksamkeit wurde von wesentlichen Themen – wie den Grundrechten und humanitären Bedürfnissen von Menschen auf der Flucht oder der Ethik der Grenzpolitik – abgelenkt und stattdessen auf die Zuweisung von Schuld oder die Schaffung von Sündenböcken gerichtet.

Unter dem Deckmantel des angeblichen „Schutzes von Geflüchteten“ vor „bösen Schleppern“ wurden die Außengrenzen weiter militarisiert und verschoben. Es wurden separate Rechtsräume geschaffen, die höchst intransparent und kaum überprüfbar sind. Mit der Einrichtung der sogenannten libyschen Küstenwache wurde ein monströses „Push-back-by-proxy“-Regime geschaffen, das auf Abschreckung setzt und das Leid und den Tod Tausender Menschen auf der Flucht in Kauf nimmt.

Die vorgelegten Beweise sprechen mit absoluter Klarheit und Vollständigkeit für das Fehlen der den Angeklagten vorgeworfenen Straftaten.

Aus der Urteilsbegründung des Richters

Mit Hilfe unseres großartigen Anwaltsteams – und der jahrelangen stabilen emotionalen, finanziellen und politischen Unterstützung durch unzählige Genoss*innen und Unterstützer*innen – konnten wir die Abläufe unserer Rettungsaktionen vollständig rekonstruieren, sodass kein Raum für Spekulationen oder fadenscheinige Anschuldigungen blieb.

Zur Untersuchung, der Vorgehensweise und der Einstellung der Staatsanwaltschaft

Der Richter stellte fest, dass die Untersuchung auf „unvollständigen Beweisen“ basierte, „nur aus einer Teilperspektive analysiert“ und sich auf „triviale Vernehmungsprotokolle“ stützte. In einem „einseitigen Beweiskontext“ wurden Aspekte von „geringem Beweiswert“ überbetont und völlig unsichere Daten ohne klare Bedeutung als „sicher“ dargestellt.

Insbesondere wies der Richter wiederholt auf die realitätsverzerrenden Berichte des verdeckten Ermittlers Luca Bracco hin, dessen Aussagen zwei Drittel der Anklage ausmachten. Darüber hinaus wurden nicht alle relevanten Daten erhoben, obwohl sie „verfügbar oder zumindest leicht zu beschaffen“ waren. Der Richter führt an, dass die Ermittlungsbehörden mit den „spärlichen Datensätzen“ des IMRCC zufrieden waren und es einfach unterließen, zusätzliche Informationen anzufordern, „die ein Gesamtbild der einzelnen Ereignisse ermöglichen und das Verhalten der Protagonisten jedes Ereignisses überprüfen würden“.

Aufgrund dieser einseitigen Ausrichtung der Untersuchung und der „verzerrten Darstellung einiger Schlüsselereignisse“ durch die Ermittler, entsprachen die von der Staatsanwaltschaft gezogenen Schlussfolgerungen nicht den „tatsächlichen Ereignissen“, die sich während der Vorverhandlung zeigten.

Zum rechtlichen Rahmen

Der Richter betonte, dass die Handlungen der Besatzung der Iuventa im Kontext ihrer Verpflichtung zur Seenotrettung zu verstehen sind, so wie es das internationale und nationale Recht vorschreibt. Diese Sichtweise veranlasste den Richter, drei Anklagepunkte abzuweisen. Er erklärte:

Entgegen den Behauptungen der Staatsanwaltschaft zeigten die Daten eindeutig, dass alle Rettungsaktionen unter dem Kommando und der ständigen Koordination des IMRCC standen!

Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft befanden sich die von der Besatzung der Iuventa geretteten Menschen in einer „offensichtlich lebensbedrohlichen Situation, da sie in untauglichen und überladenen Booten unterwegs waren, die nicht geeignet waren, lange Strecken sicher zurückzulegen und die europäischen Küsten aus eigener Kraft zu erreichen“. In Anbetracht des Fehlens einer „kompetenten Navigation, ausreichender Treibstoffvorräte und Sicherheitsvorrichtungen“ wurden sie zu Recht als „Schiffbrüchige“ betrachtet, bis sie sicher an Land gebracht wurden.

Entgegen der Behauptung der Staatsanwaltschaft, die Besatzung der IUVENTA habe Boote und Motoren an Schlepper zurückgegeben oder deren Rückholung nicht verhindert – eine zentrale Behauptung, die auf den Aussagen der mutmaßlichen Zeugen Pietro Gallo und des verdeckten Ermittlers Luca Bracco basiert und als ultimativer Beweis für die Zusammenarbeit zwischen der iuventa-crew und den Schleppern – bezog der Richter klar Stellung: „Die Besatzung der IUVENTA war rechtlich in keiner Weise verpflichtet, die Rückholung der Boote und Motoren zu verhindern. Daher könne keine Straftat begangen worden sein.“ Er machte jedoch auch deutlich, dass ein solches Eingreifen der iuventa-crew während der Rettungseinsätze das Leben der in Seenot geratenen Menschen gefährdet hätte und dass die Entscheidung, von einer solchen gefährlichen Aktion abzusehen, daher ohnehin gerechtfertigt war.


Nachdem das Feld der Verdächtigungen auf der Grundlage objektiver Daten geklärt wurde, bieten die Beweisquellen keine alternativen Lösungen und können nicht anders interpretiert werden als die oben dargelegten. Darüber hinaus können die bereits während der Vorverhandlung gesammelten Beweise nicht ergänzt werden und konnten in keiner Weise in die belastende Richtung weiterentwickelt werden.

Aus der Urteilsbegründung des Richters

Aber die stärksten Worte fand der Richter in seiner ABSCHLIESSENDEN ZUSAMMENFASSUNG:

Das Gericht erkannte die Rechtmäßigkeit der Flucht aus libyschen Haftlagern an und zog die wichtige und längst überfällige Schlussfolgerung: Fluchthilfe ist „in der Tat” notwendig!

Die Flucht vor Folter, willkürlicher Inhaftierung, sexueller Gewalt, Misshandlung, sexueller und durch Arbeit bedingter Ausbeutung sowie der Missachtung grundlegender menschlicher Bedürfnisse (Nahrung und medizinische Versorgung) ist ein klarer Hinweis auf die Unvermeidbarkeit der Flucht aus einer Situation, in der die Gefahr eines schweren persönlichen Schadens besteht, wenn man in libyschen Haftanstalten für Migranten auf der Durchreise festgehalten wird.

Aus der Urteilsbegründung des Richters


Unter diesem Gesichtspunkt wäre jedes Verhalten, das Migranten tatsächlich die Einreise nach Italien ohne Einreisegenehmigung ermöglicht, in der Tat notwendig, da es dem Schutz der grundlegenden Interessen der betroffenen Person dient und durch Libyen reisende Migrierende von den unmenschlichen Bedingungen in den Internierungslagern befreit.

Aus der Urteilsbegründung des Richters

Was bleibt nach einem solchen Prozess?

Vor allem die Wut und der Zorn über die Folgen der Beschlagnahmung der IUVENTA. Sie hatte schreckliche und tödliche Folgen für die Tausenden von Menschen, die auf dem Seeweg aus der Hölle Libyens flohen und denen das Recht auf Rettung und der Zugang zu einem sicheren Hafen verweigert wurden. Die IUVENTA hätte, wäre sie nicht 2017 beschlagnahmt worden, in den letzten Jahren einen wichtigen Beitrag zur Rettung dieser Menschen leisten können. Das werden wir niemals vergeben oder vergessen!

Ja, wir haben einen Freispruch erwirkt und aufgedeckt, wie die strafrechtlichen Ermittlungen weit über vernünftige und möglicherweise rechtliche Grenzen hinausgingen. Eine Anti-Mafia-Staatsanwaltschaft gab über 3 Millionen Euro für den Einsatz von fünf Ermittlungseinheiten aus, darunter eine Spezialeinheit gegen „organisierte Kriminalität“, die gegen Aktivist*innen der Seenotrettung vorging. Sie verwanzten drei Schiffe, zapften über 40 Telefone an und setzten verdeckte Ermittler ein. All dies erscheint nun in einem unrühmlichen Licht.

Doch trotz des juristischen Erfolgs und der kraftvollen politischen Kampagnen hat dieser Prozess der Festung Europa einen großen Dienst erwiesen. Er diente als Rechtfertigung für die Diffamierung solidarischen Handelns und bereitete den Weg für weitere Repressionen gegen die zivile Seenotrettung. Für fast alle Protagonisten dieser Operation gegen die „Taxis der Meere“ gibt es bisher keine Konsequenzen, nur lukrative Posten. Diese mangelnde Rechenschaftspflicht und Verantwortungsübernahme ist untragbar, weshalb das Ergebnis dieses Strafprozesses weit hinter der tatsächlichen Gerechtigkeit zurückbleibt.

Ja, wir sind erleichtert über das Ergebnis und den Abschluss des Prozesses! Wir sind zutiefst dankbar für das Engagement, die Leidenschaft und den enormen Zeit- und Energieaufwand unserer wunderbaren Mitstreiter*innen und Unterstützer*innen. Ihr Wissen und ihre Erfahrung waren entscheidend für uns! Nur durch ihre immense Sorgearbeit – eine so oft unsichtbare und unterschätzte, aber grundlegend wichtige Anstrengung – konnte dieser Prozess uns nicht brechen. Der Beitrag unserer Genoss*innen und Verbündeten war wirklich von unschätzbarem Wert!

Ja, wir wurden freigesprochen, wie es bei weißen europäischen Aktivisten oft der Fall ist. Aber Menschen auf der Flucht sehen sich weiterhin systematischer Inhaftierung und harten Urteilen in Strafprozessen ausgesetzt, nur weil sie das Boot gesteuert haben, das ihre eigene und die Flucht anderer ermöglicht hat.

Solidarity in Trapani

Sei Komplizin!

… dieser Aufruf hat in den letzten Jahren für uns eine enorme Bedeutung erlangt! Gerade in politischen (Straf-)Prozessen ist ein starkes und aktives Unterstützungsnetzwerk von entscheidender Bedeutung! Viele Menschen haben uns im Laufe der Jahre emotional, finanziell und politisch unterstützt, sind hinter uns gestanden und haben es uns ermöglicht, diesen Prozess mit Integrität und Courage zu führen.

Dank dieser Unterstützung konnten wir über die „einfachen“ Argumente hinausgehen, mit denen wir das Gericht und die Öffentlichkeit am ehesten hätten für uns gewinnen können. Wir konnten deutlich machen, dass es in diesem Fall um mehr geht als nur um uns vier Angeklagte oder ein einzelnes Rettungsschiff. Wir konnten Raum gewinnen – im Gerichtssaal und in der Öffentlichkeit! Dafür sind wir sehr dankbar!

Und trotzdem haben wir immer noch Wut im Bauch! Die Zustände und Realitäten an den EU-Grenzen haben sich kein Stück zum Besseren verändert.

Die Zeiten, in denen wir leben, sind so unglaublich grausam! Ein wachsender Autoritarismus und die Erosion der universellen Menschenrechte schreiten voran. Das Recht Rechte zu haben, wird in einem unerträglichen Ausmaß demontiert und mit Brachialgewalt beseitigt, nicht nur an den Grenzen der EU – sondern von Gaza über den Sudan bis nach Rojava.

In solch unmenschlichen Zeiten und immer kleiner werdenden Räumen für Solidarität kann die (Wieder-)Eroberung eines kleinen Raums nicht nur einen Hoffnungsschimmer und Erleichterung bringen, sondern auch Sand im Getriebe sein! Wir sind nicht die Einzigen, die in den letzten Monaten wichtige juristische Erfolge gegen die Festung Europa erzielt haben! Es gibt viele andere, die kämpfen, die sich von der Maschinerie der Unterdrückung nicht einschüchtern lassen. Wir sind überzeugt, dass wir gemeinsam etwas bewirken können!


So viel Polizei und doch keine Gerechtigkeit!

Das Schiff IUVENTA wurde am 2. August 2017 – also vor genau sieben Jahren – im Hafen von Lampedusa beschlagnahmt und ist uns nun als Wrack zurückgegeben worden. Im Dezember 2022 stellte der Richter in unserem Verfahren fest, dass die IUVENTA während der Dauer der Beschlagnahme schwer beschädigt und vernachlässigt worden war. Er entschied daraufhin, dass die für die Beschlagnahme und Überwachung der IUVENTA zuständige Behörde die Kosten für die Reparatur des Schiffes übernehmen muss. Doch jetzt, nach Abschluss unseres Verfahrens, hat der Richter dieses Urteil zurückgezogen: Es liegt nicht in seiner Zuständigkeit, darüber zu entscheiden.

Foto: Selene Magnolia

Das Schiff wurde uns einfach in einem völlig zerstörten Zustand übergeben. Nach ersten Schätzungen von Experten würde es mehrere hunderttausend Euro kosten, das Schiff wieder seetüchtig zu machen. Aber wir werden den italienischen Staat nicht damit davonkommen lassen! Für uns bedeutet das jetzt, gemeinsam mit der Organisation „Jugend rettet“ in einem Zivilprozess die Übernahme der Verantwortung zu erzwingen!


Eine Geschichte wie die der IUVENTA darf sich nicht wiederholen!

Jedes zivile Seenotrettungsschiff, das beschlagnahmt oder festgehalten wird; jede Crew, die sich wegen ihrer solidarischen Aktionen jahrelang in einem Strafprozess verteidigen muss – all das sollte einen Aufschrei und Widerstand auslösen!

Unser Freispruch ist nur ein Meilenstein, nicht das Ende des Kampfes!

Die Kernprobleme, die uns zum Handeln veranlasst haben, bleiben bestehen:

Die Verweigerung sicherer und legaler Flucht- und Migrationsrouten nach Europa.

Die gefährlichen Reisen, die Menschen auf der Flucht gezwungen sind zu unternehmen, die zu Gewalt und Tod führen.

Die Kriminalisierung der Solidarität mit und der gegenseitigen Hilfe unter Geflüchteten, die zur Zerstörung von Leben durch die Migrationspolitik der EU führt.

Unser Engagement bleibt unerschütterlich. Wir machen weiter:

Auf See: Rettung und Unterstützung von Menschen in Seenot.

Vor Gericht: Verteidigung der Rechte von Menschen auf der Flucht und von Menschen, die sich solidarisch mit ihnen zeigen.

Auf der Straße: Sensibilisierung und Mobilisierung von Unterstützung in unseren Gemeinden.

Gemeinsam werden wir weiter für Gerechtigkeit, das Recht auf Rechte und Bewegungsfreiheit für alle kämpfen!

Solidarity And Resistance,

iuventa-crew