Aussage des Angeklagten Dariush

October 13, 2023

Moin,

wir haben nun schon einige Zeit zusammen in diesem Gerichtssaal verbracht, aber ich möchte mich noch ein mal vorstellen.

Ich bin Dariush, 45 Jahre alt und ich bin Punkrocker aus Hamburg in Norddeutschland. Ich habe 1999 angefangen auf Schiffen im Hamburger Hafen zu arbeiten.

Drei Jahre später habe ich meine Ausbildung erfolgreich beendet und seit dem bin ich Kapitän auf Binnenschiffen. 2016 bin ich das erste Mal auf der iuventa gewesen. Da ich als Binnenschiffer keine Erfahrungen auf dem Meer und in der Seenotrettung hatte, war ich froh nicht sofort als Kapitän an Bord gehen zu müssen.

Das wäre einen Monat vorher fast passiert. Es wurde dringend ein Kapitän gesucht. Zum Glück wurde aber noch jemand anderes gefunden. Ich hätte so spontan auch nicht frei bekommen, bei meiner Lohnarbeit.

Auch das möchte ich an dieser Stelle betonen.

Seit dem ich das erste mal auf der iuventa war bin ich noch auf vielen weiteren Einsätzen auf dem Mittelmeer gewesen. Erst dieses Jahr mehrmals. Ich habe für diese Einsätze nie Geld erhalten.

Ich habe mein Flüge selber bezahlt und ich bin während meiner Urlaubs- und Freizeit gefahren. Natürlich musste ich nicht für den Proviant bezahlen, den wir an Bord verbraucht haben, das ist aber auch das einzige.

Auf einem meiner Einsätze war ich der sogenannte “Puller”. Ich stand also während der Rettungen an der Reling und habe den Menschen geholfen von ihren Booten oder unserem RHIB an Bord der iuventa zu kommen.

Ich habe in zwei Wochen fast 700 Menschen die Hand gegeben und sie an Bord gezogen. Viele hatten nicht die Kraft um alleine an Bord zu klettern. Ich wusste vorher nicht, wie sich Menschen anfühlen, die seit Tagen nichts gegessen hatten oder völlig dehydriert sind.

Ich habe vorher noch nie in meinem Leben so erschöpfte Menschen gesehen. Ich werde ihre Blicke nie vergessen.

Die haben uns nicht angeguckt und gesagt “Wie verabredet, da seid ihr ja. Lief alles wie geplant.” Diese Menschen wussten, hätten wir sie nicht gefunden, dann wären sie wenige Stunden später ertrunken.

Ich war jahrelang bei allen Einsätzen Teil der Brückencrew. Immer als Nautiker, manchmal als Kapitän.

Während einer meiner frühen Einsätze wurden wir von einem großen Handelsschiff per Funk kontaktiert. Sie hätten ein Schlauchboot in Sicht. Es seien ungefähr 130 Menschen auf dem Boot.

Die Crew des Handelsschiffes konnte selber nicht eingreifen, ihre Bordwand war zu hoch.

Aber, so funkten sie, sie würden vor Ort bleiben, damit wir Chancen hatten, das Boot zu finden.

Wäre der Kapitän mit seinem Schiff weitergefahren und hätte uns nur die Position des Bootes durchgegeben, wir hätten große Schwierigkeiten gehabt das Boot zu finden, denn wir waren einige Stunden von der angegebenen Position entfernt.

Nur wenige Tage vorher hatte uns das MRCC Rom die genaue Position eines Bootes gegeben mit der Anweisung dort hin zu fahren, um die Menschen zu retten. Trotz unseres Radargerätes und 6 Menschen aus der Crew die mit Ferngläsern Ausschau hielten konnten wir das Boot erst sehen, als wir nur noch 1,5 Seemeilen von ihm entfernt waren.

Es ist schwer Boote im Meer zu finden. Sehr schwer.

Die iuventa ist nicht sehr hoch, wenige Meter. Wir konnten nur einen kleinen Radius visuell erfassen. Deswegen waren wir dankbar, als der Kapitän des Handelsschiffes sagte, sie würden bei dem Boot bleiben. Das war und ist leider nicht selbstverständlich.

Wir fuhren so schnell die iuventa es zuließ. Ein modernes, schnelles Rettungsschiff hätte die Strecke in der Hälfte der Zeit geschafft. Vielleicht schneller. Unsere iuventa ein alter, umgebauter Fischtrawler war langsam.

An diesem Tag zu langsam.

Eine halbe Stunde bevor wir vor Ort waren funkte uns der Kapitän wieder an “Ihr könnt langsamer machen. Das Boot ist grade gekentert. Es sieht nicht so aus, als hätte jemand überlebt.

Wie meistens auf dem Mittelmeer blieb nicht viel Zeit um nachzudenken.

Das einzige was wir für diese Menschen noch machen konnten war, dafür zu Sorgen, dass sie würdig bestattet werden können.

Und ihre Angehörigen sollten informiert werden.

Zu viele sind schon im Mittelmeer spurlos verschwunden.

Wir haben angefangen zu überlegen, wo wir an Bord so viele Leichen hinlegen können.

Eine halbe Stunde später waren wir bei den Resten des Bootes.

Ich bin noch nie an einem Ort gewesen, der so still, so traurig und so leblos gewesen ist.

Wir hätten uns keine Gedanken machen brauchen, wo wir die Leichen hinlegen können. 130 Menschen waren in so kurzer Zeit einfach verschwunden.

Wir konnten nur noch drei Leichen finden und bergen. Ich habe sie von unserem RHIB an Bord geholt.

Ich habe sie erst auf unser Deck und dann in Bodybags gelegt.

Auch ihre Blicke werde ich nie vergessen.

2015 und 16 gründeten sich immer mehr Seenotrettungsinitiativen.

Da ich linker Aktivist bin, war es für mich selbstverständlich, zu Gucken, wo ich mich einbringen kann.

Bevor ich das erste mal an Bord der iuventa gewesen bin, dachte ich eigentlich nur: ich arbeite auf Schiffen, ich kann vielleicht helfen.

So machen wir das halt.

Ich hatte durch Zeitungsartikel und das Internet mitbekommen, dass immer mehr Boote auf dem Mittelmeer kentern. Immer mehr Menschen ertranken.

Um diesem Sterben etwas entgegenzusetzen, haben sich immer mehr Menschen in verschiedenen Gruppen und NGOs organisiert.

Viele dachten, sie müssen nur mehr darüber berichten, wie viele Menschen im Mittelmeer ertrinken. Dann würde sich schon was ändern. Wir dachten eins sei klar.

Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.

Menschen die in Seenot sind können nicht warten, bis Europa fertig diskutiert hat oder unser Prozess endlich eingestellt wird. Sie brauchen sofort Unterstützung.

Solange europäische Regierungen nicht ihrer Pflicht nachkommen und selber genug Rettungskräfte einsetzen, bedeutet jeder Tag an dem ein ziviles Rettungsschiff festgesetzt ist, dass mehr Menschen sterben.

Langfristig, so hofften wir damals, muss sich die Politik ändern, aber bis dahin sollten einfach ein paar Menschen weniger ertrinken.

Das war 2016 meine Motivation. Bevor ich das erste Mal auf die iuventa ging.

Mir war bewusst, die Menschen auf den Booten können am allerwenigsten dafür, in diese Situation geraten zu sein. Es ist unser, der europäische Lebensstil, der Menschen in die Flucht treibt.

Es ist der europäisch verursachte Klimawandel, der ganze Landstriche unbewohnbar macht. Europäische Firmen beuten die Welt aus. Egal ob Rohstoffe und Bodenschätze geraubt werden oder Menschen unter schlimmsten Bedingungen arbeiten müssen. Für unsere Nahrungsmittel, Textilien und technischen Geräte.

Das sind die Push Faktoren, die Menschen in die Flucht treiben.

Und europäische Gesetze zwingen die Menschen dann auf die Boote zu steigen.

Als ich das erste Mal dort unten war, in den Gewässern nördlich Libyens und zum ersten Mal so ein überfülltes Schlauchboot mit eigenen Augen sah, da kam zu meinem theoretischen Ansatz etwas dazu. Die Praxis.

Die Menschen vor sich zu haben. Sie zu sehen und zu hören. Ihnen zuzuhören, was sie erlebt haben, warum sie sich auf die Flucht begeben haben.

Und auch die Intensität, die jede einzelne Rettung in sich birgt.

Das stundenlange suchen nach einem Boot, selbst wenn das MRCC Rom uns vorher die genaue Position gegeben hat.

Die Erleichterung ein Boot zu sichten, wenn es noch nicht gekentert ist. Der Moment, wenn das RHIB dir per Funk durchgibt, dass es den Menschen an Bord verhältnismäßig gut geht. Und damit meine ich ausdrücklich nicht, dass diese Menschen nicht in Seenot sind.

Stellen Sie sich ein mal vor dieses Gebäude steht in Flammen.

Sie, Herr Staatsanwalt, schaffen es unversehrt raus, nur Ihre Kleidung ist etwas versenkt und sie haben ein paar Schürfwunden. Während sie die Treppen vor dem Gebäude runter laufen sehen sie auf den Stufen, und das ist nur ein Beispiel, den Richter mit gebrochenem Bein liegen, einer seiner Ärmel ist noch am brennen. Dann würde ein Rettungssanitäter der sie sieht doch auch sagen „Dieser Mensch ist klar in Not, aber es geht ihm verhältnismäßig gut.“

Er würde nicht bei jedem Menschen in seinen Bericht schreiben, dass auch dieser aus dem brennenden Haus gekommen ist. Das ist in dieser Situation selbstverständlich.

Genau so selbstverständlich sollte jedem sein, dass auf dem Mittelmeer jedes Boot mit Fliehenden in Seenot ist. Frontex hat Richtlinien veröffentlichen anhand derer zu entscheiden ist, wann ein Boot in Seenot ist.

Jedes Boot, das ich auf dem Mittelmeer unterstützt habe, erfüllte fast alle Punkte die Frontex auflistet und von denen einer reicht, damit es sich um einen Seenotfall handelt.

Für uns, auf der Brücke der iuventa, hieß der Funkspruch es gehe den Menschen verhältnismäßig gut erst mal, dass keine Toten an Bord waren und keine Schwerverletzten. Und noch wichtiger war, es hieß, das Boot machte nicht den Eindruck, als würde es in den nächsten Minuten kentern.

Das reicht für uns, um zu sagen es geht den Menschen verhältnismäßig gut.

Jedes mal, wenn ich beobachtet hab, wie das RHIB zum ersten Mal an ein Boot ran fährt, war ich extrem nervös. Jedes Maneuver kann so ein fragiles Boot zum kentern bringen. Mit jedem Menschen, den das RHIB Team von dem Boot runter holen konnte, lag das Boot wieder ein wenig stabiler im Wasser.

Und für jeden Menschen der auf das RHIB kam, bedeutete es, er würde heute nicht ertrinken.

Wir wollten die Menschen endlich von ihrem schwimmenden Sarg holen. Nichts anderes sind diese Boote.

Dementsprechend groß war die Freude jedes Mal, wenn wirklich alle von einen Boot sicher an Bord der iuventa waren. Crew und Gäste lagen sich oft weinend vor Erleichterung in den Armen.

So war es aber nicht jedes mal.

Wir haben Boote kentern sehen. Menschen, die um ihr Leben fürchten. Wir waren im Dunkel der Nacht an gekenterten Booten und konnten nur noch wenige retten. Die Schreie wurden immer leiser, immer weniger. Wir haben treibende Leichen gefunden, hatten grade erst Ertrunkene an Bord und auch Menschen, die fast ertrunken wären. Manche haben nur dank der medizinischen Versorgung in unserem kleinen Hospital überlebt.

Ich erinner mich an jeden besonders schlimmen Fall, wenn unsere Medics Stundenlang gekämpft haben.

Auch ihre Blicke werde ich nicht vergessen, wenn sie auf die Brücke kamen, um sich kurz auszuruhen und zu berichten, wie es dem Patient geht.

Wenn ein Boot kentert, wenn Menschen im Wasser sind, dann müssen in Sekunden Entscheidungen getroffen werden.

Wenn es gutging konnten wir alle retten. Wenn es gutging.

Es ist wichtig und richtig da draußen zu sein. Jeder einzelne Mensch, der nicht ertrinken muss, ist es Wert mit einem Schiff tagelang zu patrouillieren. Es kann über Leben und Tod entscheiden, wie lange ein Rettungsschiff zu einem Boot in Seenot braucht. Für mich war das eine schmerzliche Lektion bei meinem ersten Einsatz. Für 130 Menschen bedeutete es den Tod, dass wir eine halbe Stunde zu Spät gekommen sind.

130 Menschen.

Während dieses Prozesses und auch wenn ich Medienberichte lese, habe ich manchmal das Gefühl wir vergessen, dass es um Menschen geht. Nicht um Nummern oder Statistiken.

Seien sie ehrlich, haben sie während meines letzten Absatzes wirklich an 130 Menschen gedacht oder an eine abstrakte Zahl, nicht mit Gefühlen verbunden?

Ich stehe hier heute vor Gericht, weil ich im Juni 2017 Kapitän der iuventa war.

Während dieses Einsatzes wurde uns ein Großteil der Boote, die wir unterstützt haben, vorher vom MRCC Rom gemeldet. Jede Rettung, auch wenn wir die Boote in Seenot zufällig entdeckt haben, wurde von Rom koordiniert und autorisiert.

Ich habe nie Anrufe, Mails oder sonstige Nachrichten aus Libyen erhalten.

Aus Italien haben wir nicht nur die Information erhalten, wo sich die Boote befanden. Das MRCC hat uns auch Anweisungen gegeben, was wir machen sollten, wenn wir das Boot gefunden hatten.

Da nur wir vor Ort die Situation einschätzen konnten, blieb manchmal nicht die Zeit auf eine Antwort des MRCCs zu warten. Wenn schnelles Reagieren erforderlich gewesen ist, informierten wir das MRCC so schnell wie möglich über unser Vorgehen.

Manchmal sollten wir die Situation nur stabilisieren, also Rettungswesten verteilen und nach medizinischen Notfällen gucken. Das MRCC Rom hat dann ein größeres Schiff in unsere Richtung geschickt, welches die Menschen an Bord nehmen sollte. Wenn das nicht so schnell möglich gewesen ist, haben wir die Anweisung erhalten die Menschen erst mal selber an Bord zu nehmen und sie später zu einem anderen Schiff zu bringen.

Manchmal passierte es, dass uns das MRCC Rom eine Anweisung gab, die ich außergewöhnlich finde. Wenn sich das MRCC mit einem Distress Case meldete, bei dem das Boot sich noch innerhalb der 12 Meilen Zone Libyens befand, also in territorialen Gewässern.

Das Seerecht sagt klar, auch dann muss zu einem Boot gefahren werden.

Aber das MRCC Rom hat uns aufgefordert bis an diese 12 Meilen Grenze ran zufahren und dort auf das Boot zu warten.

Hätte ich das als Kapitän entschieden, dann hätte ich mich damit strafbar gemacht.

Das waren die ersten Male, dass ich anfing die Arbeitsweise der Rettungsleitstelle in Rom nicht nur zu kritisieren, sondern zu hinterfragen. Wie konnte es uns so eine Anweisung geben?

Das Seerecht sagt eindeutig, wenn ein Boot in Seenot ist und du die Möglichkeit hast, diesem Boot zu helfen, dann musst du das machen. Außer du gefährdest damit deine Crew oder dein Schiff. Auch wenn das Boot in Not sich in nationalen Gewässern, also innerhalb der 12 Seemeilen Zone eines Landes befindet.

Du musst hinfahren und die Menschen retten.

Das MRCC Rom wusste und hat es uns so auch mitgeteilt, dass das Boot in Seenot ist.

Nicht sofort hinzufahren bricht Seerecht.

Und noch schlimmer, es erhöht die Gefahr für die Menschen auf dem Boot.

Wir haben die Anweisung befolgt und auf dieser willkürlich gezogenen Linie gewartet. Wir konnten das Boot nur durch unsere Ferngläser beobachten. Manchmal dauerte es Stunden, bis es bei uns war.

Wir warteten. Und hofften.

Die ganze Crew wusste, wenn das Boot kentert, dann müssen unsere RHIBs so schnell wie möglich zu dem Boot fahren. Und alle wussten, wenn das Boot erst gekentert war, dann würden sehr viele Menschen ertrinken.

So schnell konnten wir gar nicht sein.

Wie konnte uns das MRCC so eine Anweisung geben? Mehrmals!

Noch schlimmer war es für mich im Mai 2017, als das MRCC Rom uns aus einem laufenden Einsatz plötzlich abzog.

Der Tag fing damit an, dass wir Menschen auf drei Holzbooten unterstützt hatten und sie auf Anweisung des MRCCs an Bord der iuventa genommen haben.

Später kam die Anweisung zu einem anderen Rettungsschiff zu fahren, dieses sollte die Menschen nach Italien bringen.

Während unsere RHIBS die Menschen von der iuventa zu dem anderen Schiff brachten, hat sich das MRCC Rom nochmal gemeldet.

Wir haben die Anweisung bekommen circa zwanzig der Menschen selber mit der iuventa nach Lampedusa zu bringen.

Obwohl dem MRCC Rom bekannt war, was wir mit der iuventa machen können und was nicht. Wir konnten Menschen nur für einen kurzen Zeitraum und kurze Stecken an Bord nehmen. Wir hatten nur eine Toilette für die Gäste, kaum Versorgungsmöglichkeiten und vor allem nicht ausreichend Wetterschutz auf unseren Decks.

Auch die Crew des anderen Rettungsschiffes wunderte sich über die Anweisung, sie hatten genug Platz für alle, die bei uns an Bord waren.

Trotzdem bestand das MRCC darauf, dass wir zwanzig Menschen nach Italien bringen sollen.

Erst nachdem wir unsere Sicherheitsbedenken ausdrücklich und ausführlich per Mail dargelegt hatten wurde die Anweisung geändert. Wir sollten nur noch fünf Menschen an Bord behalten und nach Lampedusa bringen.

Inzwischen hatten sich per Funk andere NGO Schiffe gemeldet, die in unserer Nähe waren.

Sie hätten acht Boote in Seenot um sich. Sie baten uns um Hilfe.

Reagiere ich als ein Kapitän nicht auf einen Notruf, breche ich Seerecht.

Zu unserem Unverständnis hat uns das MRCC Rom verboten zu den Seenotfällen zu fahren. Uns wurde gedroht, wenn wir versuchen zu helfen würde das MRCC die Verantwortung für die fünf Geretteten, die noch an Bord waren, ablehnen.

Wir haben den laufenden Einsatz abgebrochen und sind Richtung Norden gefahren.

Wir haben noch lange die anderen NGO Schiffe am Funk gehört. Immer mehr Boote waren um sie herum in Seenot.

Wir brauchten 1,5 Tage nach Lampedusa und genau so lange zurück.

In diesen 3 Tagen waren in dem Gebiet 21 Boote in Seenot.

Fünf Boote sind verschwunden.

Die ca. Tausend Menschen darauf sind sehr wahrscheinlich ertrunken.

Hat das MRCC Rom mit seiner Anweisung wissentlich ihren Tod in kauf genommen?

Sie fragen sich vielleicht, warum ich das erzähle, was das mit diesem Verfahren zu tun hat?

Neben dem offensichtlichen Grund, dass ich Ihnen davon berichte, wie wir trotz anderer Überzeugung den Anweisungen der Behörde gefolgt sind, gibt es noch einen Grund, Ihnen davon zuerzählen.

Und der macht die zuvor getroffene Entscheidung und die ganze Situation, jeden einzelnen Verhandlungstag in diesem Gerichtssaal, umso bitterer.

Erst nachdem die iuventa im August beschlagnahmt wurde, haben wir Einsicht in die Akten erhalten. In ihnen steht, dass die Brücke der iuventa verwanzt wurde und wir drei Monate lang abgehört wurden.

Die Akten enthalten noch eine Information.

Unser kurzer Aufenthalt in Lampedusa wurde genutzt um die Wanze oder die Wanzen auf dem Schiff anzubringen.

Genau an dem Tag, als wir auf Anweisung des MRCC Roms in Lampedusa waren, begann laut Akten die Aufzeichnung der Gespräche auf der Brücke der iuventa.

Ich wünschte die Staatsanwaltschaft hätte sich die Schreie der Tausend Menschen von den fünf verschwundenen Booten anhören müssen.

Sie sind ertrunken, damit gegen uns ermittelt werden konnte.

Noch mehr wünsche ich mir, es hätten keine Menschen sterben müssen, damit gegen mich ermittelt werden kann.

Stattdessen hat das Gericht hunderte DVDs mit Gesprächen, die wir auf der Brücke geführt haben. Wie wir über Heimweh geredet haben, Trink- und Raufgeschichten ausgetauscht haben oder zusammen geweint haben, wenn wir mal wieder nicht alle Menschen von einem Boot retten konnten und wir wieder Leichen vor uns hatten.

Ich möchte an dieser Stelle noch mal betonen, das Anbringen der Wanze auf der iuventa hat zu keinem Ergebnis geführt. Es wurde nichts aufgenommen, was unsere vermeintliche Schuld beweisen könnte.

Wir haben bestimmt unsere Kritik an europäischer und italienischer Politik geäußert.

Oder das MRCC Rom kritisiert.

Aber in den gesamten Aufnahmen wurde nichts rechtlich Belastendes gefunden.

Sichere, legale Fluchtrouten würden Ermittlungen wie die gegen uns unnötig und unmöglich machen. Die zivile Seenotrettung bräuchte es dann nämlich nicht mehr.

Sichere, legale Fluchtrouten würden die Menschen vor den libyschen Lagern bewahren und sie würden das Sterben auf dem Mittelmeer verhindern.

Sollte nicht ein Ziel Europas sein, dass Menschen sich nicht in libyschen Lagern zu Tode schuften müssen? Das niemand Folter, Vergewaltigung oder Tod fürchten und auch alltäglich erleben muss, nur weil sie oder er auf der Flucht nach Europa ist?

Ist das nicht ein wichtiger Teil Europas Geschichte, dass es nie wieder solche Lager geben sollte?

Und sollen internationale Abkommen und Konventionen nicht das Leben und die Rechte von Menschen auf der Flucht schützen?

Das zentrale Mittelmeer ist nicht nur sprichwörtlich der größte Friedhof der Welt.

Seit dem Beginn dieser Vorverhandlung sind mindestens 2800 Menschen im Mittelmeer ertrunken.

Seit der Beschlagnahmung der iuventa sind es 9200.

Ich bin froh, dass ich bei meinen Einsätzen immer wieder Menschen vor dem Ertrinken bewahren konnte, so auch am 18.06.2017.

Die Anklage glaubt, die Geschehnisse des Tages würden uns überführen und zeigen, was wir ihrer Meinung nach getan haben.

Aber was ist an diesem Tag, nördlich von Libyen, auf dem Mittelmeer passiert?

Wie jeden morgen hat die Nachtwache auf der Brücke unsere genaue Position an das MRCC Rom gemailt. Falls ein Notruf bei ihnen eingeht wussten sie, ob wir Nah genug sind um zu helfen.

Wenige Minuten später, um 04.20h, hat das MRCC Rom uns via Satellitentelefon angerufen.

Ich wurde geweckt und war von da an bis zum Ende des Tages auf der Brücke. In dem Anruf informierte uns das MRCC Rom über ein Boot in Seenot. Es sei noch innerhalb Libyscher Territorialgewässer, wir sollten losfahren und nördlich der gegebenen Position warten. Sobald das Boot in internationale Gewässer gekommen ist, sollten wir die Menschen retten.

Wieder hat das MRCC Rom mit dieser Anweisung die Menschen auf dem Boot unnötig in Gefahr gebracht und uns aufgefordert Seerecht zu brechen. Das MRCC hat nicht gesagt, wir sollen zu dem Boot fahren und berichten, ob es in Seenot ist. Im Anruf hieß es sie haben die Position eines Disstress Cases für uns, wir sollen hinfahren und die Menschen retten.

Um 05.44h hatten wir Sichtkontakt.

Wir hatten aber nicht nur ein Boot in Sicht, es waren vier. Sie hatten mittlerweile internationale Gewässer erreicht. Wir konnten 3 Holzboote erkennen. Beim vierten Boot handelte es sich um die sogenannte libysche Küstenwache.

Eine viertel Stunde später waren wir den Booten nah genug, um mit der Rettung anzufangen.

Drei Boote zeitgleich zu unterstützen ist schwierig. Du musst schnell entscheiden. Von deiner Entscheidung kann es abhängen, ob Menschen ertrinken. In Minuten mussten wir einschätzen, ob eins der Boote besonders instabil ist. Wir mussten wissen, ob auf einem oder mehreren Booten Menschen sind, die sofort medizinisch versorgt werden mussten. Die Anwesenheit der sogenannten libyschen Küstenwache machte es noch komplizierter. Sie hatten schon auf Fischer und selbst auf die italienische Küstenwache geschossen.

Wir wurden erst vor wenigen Wochen ausdrücklich von der italienischen Küstenwache gewarnt, die sogenannte libysche Küstenwache sei gefährlich. Und selbst wenn sie, wie häufig, nur die Motoren der Boote klauen wollten, gefährdete das die Situation noch mehr, als sie es eh schon war.

Der sogenannten libyschen Küstenwache ging es nie um das bewahren von Leben. Bis heute.

In so einer Situation kann ich mich nicht zurückziehen und darüber nachdenken, wie ich mich entscheiden soll. All diese Faktoren müssen sofort berücksichtigt werden.

Eine Stresssituation für die gesamte Crew.

Wir brachten unsere RHIBs ins Wasser und um 06.20h konnten bei dem ersten Boot Rettungswesten verteilt werden.

Wir wussten an dem Morgen, dass zwei andere Rettungsschiffe in unserer Nähe waren.

Die Seefuchs der NGO Sea-Eye und die Vos Hestia von Save the Children. Letztere war schon auf dem Weg zu unserer Position.

Ich glaube niemand der noch nicht in so einer Situation gewesen ist, kann sich vorstellen wie erleichternd es ist, nicht mehr alleine zu sein.

Plötzlich zu hoffen. Wenn keins der Boote kentert, könnten wir es zusammen wirklich schaffen alle Menschen sicher auf unsere Schiffe zu holen. Von allen drei Booten.

Vielleicht würde hier und heute niemand ertrinken.

Um 06.30h kam die Vos Hestia an.

Die Crew fing sofort an deren RHIBS in das Wasser zu bringen und die anderen beiden Holzboote zu unterstützen.

In den Akten gibt es ein Foto in dem die RHIBs der Vos Hestia zu sehen sind. Unter dem Bild steht es handel sich um unseres. Es ist eindeutig zu erkennen, dass keins der beiden RHIBs auf dem Bild unseres, die iuventa rescue, ist. Dafür müsste man das Bild nur mit Bildern von unserem RHIB vergleichen.

Die RHIBs von beiden Schiffen haben erst an alle Menschen auf den drei Holzbooten Rettungswesten verteilt, danach hat unser RHIB eins der Boote, Target Vessel B, längsseits der iuventa geschleppt. So konnten wir die Menschen möglichst schnell zu uns an Bord zu holen. Zeitgleich fingen die RHIBs der Vos Hestia an, die Menschen von den anderen beiden Booten zu evakuieren.

Um 07.30h waren alle von den drei Holzbooten auf den beiden Rettungsschiffen. Von zwei auf der Vos Hestia, von einem bei uns auf der iuventa.

Wir haben angefangen Vorkehrungen zu treffen, die Holzboote zu zerstören. Das Team von unserem kleinen RHIB Lilly hatte eine große Axt von der iuventa geholt, um ein Loch in den Rumpf der Boote zu schlagen und sie so zu versenken oder wenigstens unbrauchbar zu machen.

Aber als wir grade damit fertig waren alle von dem Boot an Bord zu holen, hat jemand aus unserer Crew etwas am Horizont gesichtet. Es stellte sich schnell heraus, dass es sich um ein Schlauchboot handelte.

Die Vos Hestia war der On Scene Commander, deswegen habe ich per Funk mit ihrem Kapitän abgesprochen, ob wir zu dem Boot fahren sollen.

Das es sich in Seenot befand stand für mich fest. Wie bei jedem Boot, das entweder überfüllt ist oder nicht ausreichend nautische Ausrüstung besitzt oder nicht genug Treibstoff und Proviant dabei hat um selbstständig und sicher einen Hafen zu erreichen.

Wie bei jeder Rettung wurde auch jetzt jeder Schritt mit dem MRCC Rom abgesprochen. Dieses gab die Anweisung, wir sollen erst die Menschen von der iuventa zur Vos Hestia shutteln, bevor wir mit der iuventa losfahren sollten.

Wir baten darum, dass unser RHIB sofort zu dem Boot fahren durfte, um es stabilisieren zu können. Die beiden RHIBs der Vos Hestia reichten, um die Menschen zu shutteln.

Für mich war klar, auch damit müssen wir uns beeilen.

Wir hatten jetzt keine Zeit mehr, die Holzboote zu zerstören. Wenn das Schlauchboot kentern sollte, wäre das RHIB alleine zu wenig. Sie könnten ja nur ein paar Menschen aus dem Wasser ziehen, dann wäre auf dem RHIB kein Platz mehr.

In den Statements zum 10.09. können Sie hören, was genau passiert, wenn ein Schlauchboot kentert. Mir wurde schon damals erzählt, wie an dem Tag nur so viele Menschen gerettet werden konnten, weil ein Hubschrauber Rettungsinseln abgeworfen hat.

Ich wollte unserem RHIB schnell zur Unterstützung folgen.

Die Holzboote zu zerstören war nicht mehr Priorität. Menschen in Gefahr helfen zu können ist mir wichtiger.

Um mit der iuventa losfahren zu können mussten wir schnell mit den Shuttel Fahrten zur Vos Hestia fertig werden. Genau zwischen den beiden Schiffen trieben zwei von den Holzbooten. Sie waren im Weg, die RHIBs mussten jedes mal einen Bogen um die Boote fahren. Deswegen gab ich dem Team auf unserem kleinen RHIB Lilly die Anweisung, sie sollen die beiden Boote aus dem Weg schleppen.

So ist eins der Bilder entstanden, dass nicht nur in unserer Akte ist, es tauchte auch immer wieder inder Presse auf. Unsere kleine Lilly, ein winziges Schlauchboot schleppt ein Holzboot.

Ich gab diese Anweisung, damit die Boote nicht mehr im Weg waren.

Damit wir schneller shutteln konnten, um danach zu dem Schlauchboot zu fahren.

Ich wollte nicht, dass wieder Menschen ertrinken, weil wir zu langsam sind. Wie ich es schon ein mal erlebt habe.

In der Presse und in den Akten war immer wieder zu lesen, dass Lilly die Boote zu den Schleppern, ja sogar nach Libyen direkt bringen wollte. Wer das ernsthaft in Erwägung zieht, hat vor allem eins. Keine Ahnung von Schifffahrt.

Das RHIB Lilly war klein und langsam. Lilly war sogar zu schwach, um beide Holzboote gleichzeitig zu ziehen. Sie mussten eins nach dem anderen die wenigen Meter schleppen, damit die beiden Boote nicht mehr im Weg waren.

Wir waren 17 Seemeilen von Libyen entfernt, also 30 Kilometer. Die Lilly hätte bestimmt 10 Stunden gebraucht, um so nach Libyen zu kommen. Pro Boot. Mit den Rückfahrten wären das 60 Stunden.

Und auch die Aussage, wir hätten die Boote jemandem gebracht, ist schon rein technisch total absurd. Warum sollten wir die Boote wenige hundert Meter schleppen, um sie dort zu übergeben. Selbst das hätte mit Lilly Stunden gedauert, Lilly hätte jedes Boot einzeln dahin schleppen müssen.

Die Boote, die später Wirklich kamen um die Holzboote zu holen, waren schneller, stärker und wendiger.

Sie waren nie auf uns angewiesen.

Das RHIB Lilly hat die Boote nur geschleppt, weil ich die Anweisung gab sie so weit weg zu bringen, dass sie kein Hindernis mehr darstellten.

Ich habe später an dem morgen ein Foto gemacht, als wir bei dem Schlauchboot waren. Auf dem Foto ist zu sehen, wie ein kleines Boot die drei Holzboote schleppt. Ich weiß nicht mehr, wer da grade mit auf der Brücke war, aber ich erinnere mich wie es sich angefühlt hat das zu sehen. Diese Ohnmacht.

Ich erinner mich wie ich in etwas gesagt hab wie “So eine Scheiße, die holen die Boote zurück. Es ist schrecklich, in wenigen Tagen werden die Boote wieder unterwegs sein, werden wieder Menschen auf ihnen in Lebensgefahr sein.”

Ich habe dieses Foto später an das Backoffice gemailt und darüber berichtet, wie schlimm es für uns ist zu sehen, wie die Boote zurückgeschleppt werden. Wir haben das während dieses Einsatzes noch öfter erlebt, immer wieder habe ich es in meinen Mails thematisiert.

Um 08.40h waren wir fertig mit dem shutteln zur Vos Hestia und ich fuhr die iuventa zu dem vierten Boot. Wir haben circa 25 Minuten gebraucht, bis wir bei dem Schlauchboot und unserem RHIB waren. Nachdem das RHIB alle von dem Schlauchboot zur iuventa geshuttelt hat wurde es zerstört. Die Schläuche wurden aufgeschlitzt und der Motor versenkt. Wie es unser Einsatzkonzept vorsah. Wie wir es immer gemacht haben, wenn die Zeit es zugelassen hat, wenn es keine unerwarteten, wichtigeren Prioritäten gab.

Während wir die Menschen von diesem vierten Boot des Tages unterstützt haben, hat die Crew der Seefuchs, die immer noch in der Nähe war, um 09.50h ein fünftes Boot gesichtet.

Noch ein Schlauchboot.

Auch das fünfte Boot dieses Tages befand sich anfangs noch in libyschen Gewässern. Die Seefuchs hielt Sichtkontakt und berichtete, dass sich das Schlauchboot unserer Position näherte. Deswegen gab die Vos Hestia, als größtes Schiff vor Ort waren sie der On Scene Commander, die Anweisung, dass wir dieses Boot unterstützen sollen.

So starteten unser RHIB um 10.45h in Richtung des fünften Bootes. Da das Schlauchboot bis auf 1,5 Seemeilen an uns ran gekommen war erreichten sie es schnell und verteilte wieder Rettungswesten. Auch wir mit der iuventa brauchten nicht lange, um das Schlauchboot zu erreichen.

Noch während wir unterwegs waren konnten wir von der Brücke der iuventa aus beobachten, wie ein ziviles Boot mit hoher Geschwindigkeit zu dem ersten Schlauchboot fuhr, dessen Menschen mittlerweile bei uns an Bord waren.

Der andere Vorwurf, den die Anklage gegen mich erhebt ist damit begründet, dass solche zivile Boote in unserer Nähe waren. Vermutlich von libyschen Akteuren.

Wir haben früher oft andere Boote gesehen oder in der Nähe gehabt. Oft natürlich Fischer, aber auch die sogenannte libysche Küstenwache oder Engine Fisher. Engine Fisher sind an leere Boote ran gefahren und haben geguckt, ob sie die Motoren holen konnten.

Mehr als ein mal hab ich gesehen, wie sich auch die sogenannte libysche Küstenwache die Motoren genommen hat. Wir wussten nie welche Intention andere Akteure vor Ort hatten.

Wir wussten nie, wer genau auf diesen Booten war.

Es wurde uns auch nie vom MRCC Rom oder anderen europäischen staatlichen Akteuren mitgeteilt, dass auf einem bestimmten Boot Menschen sind, von denen wir uns fernhalten sollen.

Nur vor dem europäischen Partner, der sogenannten libyschen Küstenwache wurden wir gewarnt.

Wenn jemand mit einem kleinen Boot in deine Nähe fährt und dir verzweifelt zu verstehen geben will, dass da hinten ein Boot am sinken ist, dann fragst du nicht nach mit wem du da eigentlich grade redest. Es ist nicht der Zeitpunkt darüber nachzudenken wer das vor dir ist.

Wenn ein Boot gekentert ist zählt jede Minute. Und jede Information. Wie zum Beispiel, wo sich das Boot genau befindet.

Was wir immer berücksichtigt haben ist, dass in Libyen Bürgerkrieg herrscht. Die Befürchtung, das Menschen auf diesen zivilen Booten Waffen dabei hatten, war berechtigt.

Also waren wir vor allem eins: vorsichtig.

Vorsichtig und distanziert höflich.

In diesem Moment war mir dieses zivile Boot egal. Ich vermutete, dass es Engine Fisher waren, aber wir hatten den Motor des Schlauchbootes ja versenkt. Und meine Priorität war bei den Menschen auf dem Schlauchboot direkt vor uns.

Als alle an Bord des fünften Bootes Rettungswesten anhatten bat mich das Team unseres RHIBs anfangen zu dürfen Menschen von dem Schlauchboot zu holen. Es war zu überfüllt. Sie waren besorgt, dass es kentern könnte. Um das zu verhindern, fingen wir an die Menschen von dem Schlauchboot zur iuventa zu holen. Das zivile Schnellboot kam, nach dem es vergeblich beim ersten Schlauchboot nach dem Motor geguckt hatte, zu uns und dem fünften Boot.

Anfangs blieben sie in der Nähe und beobachteten uns. Doch – wahrscheinlich – als sie das Gefühl hatten, dass wir genug Menschen von Bord des Schlauchbootes geholt hatten und es ihnen ungefährlich erschien, sind sie an das Schlauchboot ran gefahren. Das es immer noch voller Menschen war, die sie mit ihrem Maneuver gefährdeten, war ihnen egal. Sie haben den Außenborder des Schlauchbootes abgebaut und zu sich an Bord genommen.

Ich hatte es vorher noch nie erlebt, dass jemand das während einer Rettung macht. Das bringt die Menschen auf dem Boot in große Gefahr. Es ist schwer an so ein fragiles Boot ran zufahren.

Natürlich haben wir nicht eingegriffen. Alles hätte die Situation nur noch schlimmer gemacht. Die Menschen an Bord hätten in Panik geraten können, das Schnellboot hätte ein schnelles, unvorsichtiges Maneuver fahren können und woher sollten wir wissen, ob Männer bewaffnet sind? Also hab ich dem RHIB Team gesagt, sie sollen einfach abwarten. Nach dem das Schnellboot sich den Motor geholt hatte, können wir die restlichen Menschen an Bord der iuventa holen, so hoffte ich.

Ein weiteres Bild aus unseren Ermittlungsakten ist symbolisch für unser Verfahren. Auch dieses Bild ist durch die Presse gegangen. Das weiße, zivile Boot fährt weg von dem Schlauchboot und unserem RHIB. Einer der drei Männer auf dem Boot winkt mit einem Arm.

Es wird behauptet das sei eine freundschaftliche Geste zwischen ihm und uns. Auf dem Foto ist nicht klar erkennbar, wem er zuwinkt. Ich konnte sehen, dass der Mann den Menschen auf dem Schlauchboot zugewunken hat, nicht unserer Crew auf dem RHIB.

Es gibt in der Akte ein Bild von der Situation aus einer anderen Perspektive, als die auf dem berühmten Bild. Dieses zweite Foto hat es nicht in die Presse geschafft. Darauf ist klar zu sehen, dass sich das zivile Boot direkt neben dem Schlauchboot befindet, als der Mann winkt. Wären diese Männer unsere Freunde oder Geschäftspartner, hätten wir das erste Boot nicht zerstört. Das sie sich den Motor des zweiten Schlauchbootes mitten während der Rettung geholt haben, anstatt bis danach zu warten, kann nur einen Grund haben. Sie hatten Angst, wir würden auch diesen Motor versenken, bevor sie ihn sich holen konnten. Das sie Menschenleben gefährdet haben, um wenigstens den zweiten Motor zu bekommen war ihnen egal.

Die Bilder des 18.06.2017 aus unseren Akten wurden falsch interpretiert und die Interpretation im Sinne der Anklage wurde Eindeutig widerlegt.

Manche einfach durch weitere Aufnahmen der gleichen Situation, andere durch die wissenschaftliche Analyse von Forensic Architecture.

Trotz alledem endeten die Ermittlungen gegen uns in dieser Vorverhandlung, die seit Mai 2022 läuft.

Von Anfang an wurde ich hier in Trapani immer wieder überrascht.

Das die Staatsanwaltschaft uns nicht wohlgesonnen ist, damit hab ich natürlich gerechnet. Aber von einem fairen Gericht erwarte ich, das es unparteiisch ist. Ich dachte alle Beteiligten steht eine gerechte Behandlung zu und das sich das Gericht erst am Ende der Verhandlung ein Urteil bildet. Und sich dafür beide Seiten anhört. Nicht nur die Staatsanwaltschaft, sonder auch uns, die Angeklagten, und unsere Anwältinnen und Anwälte.

Von einem Richter erwarte ich, dass er sich für die Aussagen von Zeugen interessiert. Ich hätte gedacht, das Gericht nimmt die Möglichkeit wahr, den genauen Mailverlauf zwischen dem MRCC Rom und den NGOs zu erhalten, um die Informationen die darin enthalten sind berücksichtigen zu können.

Ich finde ein Richter sollte dir nicht das Gefühl geben, er habe sich schon gegen dich entschieden, nur weil er die Anklageschrift gelesen hat.

Ich erwarte eigentlich, dass ein Richter sich für Informationen interessiert, die ihm einen besseren Überblick verschaffen können.

Auch für uns gilt die Unschuldsvermutung. Oder?

Das bringt mich zu dem Thema Grundrechte. Auch hier war ich überrascht, wie oft uns diese in diesem Gerichtssaal verweigert wurden.

Immer wieder ist in diesem Prozess Übersetzung ein Thema.

Wir haben nie eine Übersetzung unserer Akten erhalten. Es steht jedem Angeklagten bei einer Gerichtsverhandlung in Italien zu, seine Ermittlungsakte lesen zu können. In einer Sprache, die er versteht. Nicht nur eine Zusammenfassung, wie sie uns gegeben wurde. Wie kann jemand es nicht wichtig finden, dass Angeklagte den Inhalt der Akten zu kennen, die zu ihrer Verhandlung geführt haben.Ich bin überrascht, dass es mir reichen soll, wenn ich 2% der Akten kenne.

Eine 600 Seiten umfassende Zusammenfassung von fast 30.000 Seiten in den Akten soll mir reichen, um mich auf dies Prozess vorzubereiten.

Auch das gibt mir das Gefühl, wir wurden schon verurteilt.

Ich wollte letztes Jahr von einem weiteren Recht Gebrauch machen. Ich wollte freiwillig eine Aussage machen, um so unsere Sichtweise zu den Vorfällen wenigstens einmal in die Akten zu bringen.

Unsere Akten umfassen 30.000 Seiten und 400 DVDs auf denen nicht ein Wort von uns stammt. Außer natürlich durch heimliche Aufnahmen und abgehörte Telefonate, deren Rechtmäßigkeit sogar das italienische Justizministerium in Frage gestellt hat.

Ich bin drei mal nach Trapani gekommen um meine Aussage zu machen. Alle drei Versuche scheiterten. Weil weder die Polizei noch die Staatsanwaltschaft es geschafft hat einen ausreichend befähigten Übersetzer zu den Terminen zu bestellen.

Beim ersten Termin hat die Polizei, die diese Befragung durchführen sollte, nach wenigen Minuten abgebrochen. Weil die Übersetzerin mir nicht mal sagen konnte wer alles im Raum ist. Einfachste Sätze konnte sie nicht übersetzen. Ich war fassungslos. In diesem Verfahren geht es darum, ob ich für Jahre ins Gefängnis muss und die Behörden bringen zu einem offiziellen Termin eine Übersetzerin, die weder darauf vorbereitet wurde, was ihre Aufgabe sein würde, noch dafür geeignet gewesen ist.

Beim zweiten Termin war ein pensionierter Polizist als Übersetzer bestellt. Ich wunderte mich, ob das nicht seine Unparteilichkeit gefährde, als ehemaliger Kollege. Und so war ich auch überrascht, als er Anweisungen von einem der anwesenden Polizisten bekam. Auch dieser Übersetzer war schnell von seiner Aufgabe überfordert. Wir mussten mehrmals den Raum verlassen, damit er einzelne Sätze in Ruhe übersetzen konnte. Trotzdem scheiterte auch er schon daran mir wenigstens zu sagen warum ich genau angeklagt wurde.

Ich möchte auch betonen, würde einer meiner Anwälte nicht italienisch und deutsch sprechen, viele Übersetzungsfehler wären nicht aufgefallen. Wem auch.

Diesen zweiten Termin haben wir beendet, bevor die eigentliche Befragung beginnen konnte. Mit diesem Übersetzer schien es uns unmöglich. Ich war wieder fassungslos.

Es muss doch möglich sein mir das wahrnehmen meiner Rechte zu ermöglichen und jemanden zu finden, um bei einem solchen Gespräch zu übersetzen.

Zum dritten Termin hat uns, überraschenderweise, nicht mehr die Polizei geladen, sondern die Staatsanwaltschaft selber. Ich dachte erst, das ist ein gutes Zeichen. Sie nehmen uns ernst, sind auch unzufrieden damit, wie die ersten Termine liefen. Um so überraschter waren meine Anwälte und ich, als wir im Büro des Staatsanwalts saßen und sie den selben Übersetzer mitgebracht hatten, dem es beim letzten Mal schon nicht möglich war mir zu übersetzen, was die Beamten mir sagten.

Wir haben uns geweigert es noch mal mit ihm zu probieren.

So wurde mir das Recht verweigert meine Aussage zu machen. Vielleicht denken sie ich übertreibe in der Darstellung.

Ein unabhängiger, vom Gericht bestellter Gutachter hat sich die Protokolle der Verhöre von allen drei Terminen angeschaut und hat eindeutig vor Gericht ausgesagt, dass es jemandem der nur deutsch spricht unmöglich gewesen wäre dem Gespräch zu folgen.

Er hat ausgesagt dass vielfach Übersetzungen nicht korrekt waren. Nach dem Kreuzverhör des Gutachters hat das Gericht verkündet die Übersetzung sei ausreichend gewesen und wir hätten keinen Grund zur Beschwerde. Es erwähnte die kurz vorher stattgefundene Aussage des Gutachters mit keinem Wort.

Als gäbe es das Gutachten gar nicht.

Die Staatsanwaltschaft war überrascht, als sie erfuhr, dass ich auch englisch spreche und die Aussage auch in englisch hätte machen können. Obwohl in den Akten diverse Mails von mir sind, die ich von der iuventa verschickt habe. Und obwohl die gesamt Zeit, die ich als Kapitän auf der Brücke gewesen bin, akustisch aufgezeichnet wurde und die Aufnahmen Teil der Ermittlungsakten sind.

Entschuldigen sie die Polemik, aber in dem Moment habe ich mich gefragt, ob die Staatsanwaltschaft auch nur die 600 seitige Zusammenfassung gelesen hat.

Und so ging es in diesem Verfahren immer weiter. Alle Anträge wurden abgelehnt. Alles was wir zur Entkräftung der Anklageschrift hätten vorbringen können wurde abgelehnt.

Wir haben während dieser Verhandlung eine Verfassungsklage eingereicht, denn wir denken die Gesetze, die unser Verfahren überhaupt erst ermöglicht haben, müssen geändert werden. Sie widersprechen italienischem und europäischem Recht.

Das Gericht hat sich auch geweigert diesen Antrag weiterzugeben.

Es will nicht, dass ein kompetentes, europäisches Gericht – der European Court of Justice – sich mit unserem Fall beschäftigt. In der Begründung dazu hat er seine Sicht der Dinge klar geschildert.

Die Menschen, die auf der Flucht nach Italien kommen sind für ihn augenscheinlich ein Problem, es wirkt so als möchte er sie nicht in Italien haben. Und die Menschen, die übers Meer kommen, die seien gar nicht in Seenot.

Da scheinen sich die Staatsanwaltschaft und der Richter einig zu sein.

Die Menschen in den kleinen, überfüllten Booten auf dem Mittelmeer seien in Wirklichkeit gar nicht in Gefahr.

Denn wir, die NGOs hätten sich dort mit ihnen verabredet.

Denn wir seien Teile eines Verbrechernetzwerkes.

Die Ermittlungen gegen mich und die 20 anderen Angeklagten waren oberste Priorität.

Wichtiger als das Leben von Tausend Menschen, die im Mai 2017 wissentlich in Gefahr gebracht wurden und ertranken.